Kompetenzorientierung - was heißt das?

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Sehr geehrte Eltern, liebe Schülerinnen und Schüler,

die Fragen, was einen „guten Unterricht“ ausmache oder was man unter einem „guten Lehrer“ oder einem „guten Schüler“ zu verstehen habe, kennen Sie gewiss noch aus der eigenen Schulzeit. Eindeutige Antworten auf diese Fragen wird es wohl nicht geben können, da der Blick auf die Unterrichtsprozesse sehr subjektiv und die Vielzahl unterschiedlicher Lerntypen und Lernverfahren unüberschaubar ist, vor allem aber weil die Frage, wie sich das „Lernen“ im Kopf eines Menschen organisiert, nicht einheitlich und abschließend beantwortet werden kann. Seit etwa zehn Jahren und vor allem durch die Bildungsexpertise aus dem Jahr 2003 im Anschluss an den „Pisa-Schock“ ist mit dem Konzept der „Kompetenzorientierung“ aber ein neuer Zugriff auf die Organisation des Lernens an der Schule erfolgt. Dieses Konzept wollen wir Ihnen im Folgenden genauer vorstellen.

Was ist Kompetenzorientierung?

Schon vor über 50 Jahren hat ein amerikanischer Psychologe in einer Studie nachgewiesen, dass Lernende nach bestimmten Phasen der Stoffvermittlung mehr konnten und verstanden, als ihnen zuvor beigebracht worden war. Sie haben die dargebotenen Informationen aufgenommen und weiterverarbeitet, z. B. mit Vorwissen vernetzt oder in der Ausrichtung auf eine als bedeutsam empfundene Problemstellung weiterentwickelt. Diese Fähigkeit des menschlichen Gehirns ist Grundlage für alle weitergehenden Überlegungen zur „Kompetenzorientierung“. Der Pädagoge Josef Leisen hat die Gleichung formuliert: „Kompetenz = Wissen + Können + Handeln“ oder – zusammengefasst - „handelnder Umgang mit Wissen“. Um Kompetenzen auszubilden, müssten daher Lernende in speziell gestaltete Lernsituationen gebracht werden, die sie zu einer intensiven, aktiven, selbst gesteuerten und kooperativen Auseinandersetzung mit einem Lerngegenstand bringen. Der Lehrer muss dabei vor allem die Informationseingabe vorbereiten und steuern, den Erarbeitungsprozess mit Aufgaben, Materialien und Methodenwissen unterstützen, den Lernprozess moderieren und den Lernfortschritt überprüfen und von den Lernenden reflektieren lassen. Das ist ein wesentlicher Unterschied zum herkömmlichen Unterricht. War der Lehrende seinerzeit eher der fachwissenschaftliche Vermittler von Inhalten, die im Lehrplan aufgelistet waren und im Schuljahr „abgearbeitet“ werden mussten („Input“), so muss er jetzt stärker dafür Sorge tragen, dass Schüler durch ihr Fach- und Methodenwissen, aber auch dank ihrer Teamfähigkeit und auf Basis eines positiven Selbstkonzepts Wissen anwenden können, um Probleme zu lösen („Output“). Diese Fähigkeiten sind in einer zunehmend globalisierten Informationsgesellschaft von überragender Bedeutung, um in Studium und Beruf erfolgreich arbeiten zu können.

Kompetenz und Standards

Der Vorzug der Kompetenzorientierung besteht darin, dass (bundesweite) Mindeststandards aufgestellt worden sind, deren Einhaltung kontrolliert werden kann. Somit ist es z. B. möglich, genau zu definieren, über welche Kompetenzen ein Schüler im Fach Deutsch, Mathematik oder Englisch am Ende der 10. Klasse verfügen muss, um den Voraussetzungen für einen „mittleren Bildungsabschluss“ zu genügen. Entsprechend lassen sich dann Testformate entwickeln, die Aufschluss über die erreichten Kompetenzen geben können. Dieses Testverfahren schlägt sich bereits in den verschiedenen Jahrgangsstufentests nieder, an denen Ihre Kinder teilnehmen müssen. Schulinterne Tests, die nach einer Analyse der vorliegenden Stärken und Schwächen Ihres Kindes und nach darauf abgestimmten Übungsphasen am Schuljahresende stattfinden, ermöglichen es der Schule, den individuellen Leistungsfortschritt festzustellen und zugleich zu prognostizieren, wie die Lernenden sich den Standards annähern werden.

Domänenbezogene Teilfertigkeiten am Beispiel des Faches Deutsch

Allerdings leisten die Standards noch viel mehr: Sie bereiten den Boden für ein wesentlich differenzierteres und kleinschrittigeres Nachdenken über notwendige „domänenbezogene Teilfertigkeiten“ Ihres Kindes. Was man darunter versteht, möchte ich an zwei Beispielen aus dem Fach Deutsch illustrieren:

Beispiel 1: Schreiben in Klasse 5 und 6 (Bericht)

Damit Ihr Kind in der 5. oder 6. Klasse einen Bericht schreiben kann, muss es in dieser „Domäne“ (also im Fach Deutsch und dort im Lernbereich Schreiben: „informierendes Schreiben“) über verschiedene Fähigkeiten verfügen, z. B.

● aufgabenbezogen den richtigen Berichtstypus wählen (z.B. Unfallbericht oder Polizeibericht)

● dessen formale und sprachliche Anforderungen beherrschen,

● die inhaltliche Gestaltung mit Blick auf einen bestimmten Adressaten vornehmen,

● bestimmte Tempus-Formen verwenden,

● oder auf bestimmte grammatische Strukturen (z.B. zeitlich-logisch korrekter Ablauf durch entsprechende Bindewörter) zurückgreifen.

Diese und weitere Aspekte sind zu berücksichtigen. Reihenfolge, Übungsverfahren oder Wiederholungen werden dabei so geplant, dass eine Schreibgeläufigkeit entstehen kann, die zu einem möglichst optimales Schreibergebnis führt.

Beispiel 2: Mit literarischen Texten umgehen in Klasse 7 (Ballade)

Wenn Ihr Kind in der 7. Klasse die Ballade „Der Handschuh“ von Friedrich Schiller kennen lernt, soll es bereits erworbene Fähigkeiten einsetzen, um mit ihrer Hilfe zu einem möglichst umfassenden Verständnis des Textes zu gelangen. Dazu zählen z.B.

● ein „Textmusterwissen“, das durch Anwendung geübter Verfahren (W-Fragen, Sinnabschnitte, Ursache-Folge-Relationen) zur Erkenntnis führt, dass es im Text verschiedene Konfliktsituationen gibt,

● ein „Textsortenwissen“, dass es den Schülern ermöglicht, bekannte Textsorten wie Märchen, Sage oder Fabel mit diesem Text anzugleichen und dabei Ähnlichkeiten und Unterschiede zu erfassen,

● oder ein „kulturelles Wissen“, das z.B. dabei hilft, den Gebrauchswert und die Funktion des Handschuhs im Text zu durchschauen. Auch Vorerfahrungen der Kinder (Wie verhalten sich Autoritäten? Verhält sich denn der König hier so?) sollen angewendet werden.

Somit werden nicht nur Lern- bzw. Wissensbereiche miteinander vernetzt und wiederholt, sondern auch Strategien aufgezeigt, die Ihr Kind zu einem eigenständigen Umgang mit literarischen Texten befähigen.

Rolle der Lehrenden

Entscheidend ist dabei, dass der Lehrende den Schülern keine Ergebnisse vorsetzt, die auswendig gelernt werden sollen (was zur Folge hätte, dass das Gelernte unflexibel und wohl auch oft unangemessen auf andere Lernsituationen übertragen, d. h. zum Beispiel anderen Balladen „aufgezwungen“ werden würde). Die Schüler sollen vielmehr ihr Wissen als Erkenntnismittel wahrnehmen und anwenden lernen. Der Lehrende hilft ihnen dabei, indem er z.B. Anregungen gibt, den Zusammenhang zwischen Text einerseits und Vorwissen oder Arbeitsmethode der Schüler andererseits reguliert und mit bestimmten Aufgabenformaten (z.B. Multiple-Choice -Fragen) auch die Verstehensüberwachung der Schüler sicherstellt. Gerade die oben angeführten Beispiele belegen auch, wie wichtig die Nachhaltigkeit des Lernens ist. Wesentliche Wissensbereiche („Grundwissen“) werden immer wieder aktiviert und in verschiedenen Zusammenhängen zur Lösung von Problemen angewendet. Wissen wird dadurch „dekontextualisiert“, d.h. zunehmend auch auf unbekannte Situationen anwendbar gemacht. Die Lehrenden müssen ihren Unterricht entsprechend klar strukturieren und dabei die Vorkenntnisse und die Motivationsfähigkeit der Schüler nutzen. Stärker als bisher müssen sie die Schüler über ihre Strategien sowie die erzielten Erkenntnis-fortschritte reflektieren lassen und deren methodisches und strategisches Problem-lösungshandeln automatisieren. Methodisch ansprechende Angebote und als motivierend und bedeutsam wahrgenommene Lernsituationen sowie individuelle Differenzierungs- und Übungsangebote helfen Ihren Kindern. Entscheidend aber scheint mir, dass dieser Unterricht nicht mehr als das Auswendiglernen lehrerdominierter Tafelbilder erscheint, sondern dass die Kinder den Sinn ihrer Handlungen wahrnehmen, sich in eine Relation zum erwünschten Lernerfolg bringen können (Ist-Soll-Relation) und ihr Handeln durch Rückmeldung des Lehrenden verstärkt wird.

Neuerungen in den Bereichen „Lesen“ und „Schreiben“

Zentrale Bereiche im PISA-Test, der den Wandel zum „kompetenzorientierten Lernen“ beschleunigt hat, sind im Bereich Deutsch die Lese- und Schreibkompetenz, die von einigen Didaktikern auch als übergeordnete Kompetenzbereiche des Faches Deutsch bezeichnet werden.

a) Einige Hinweise zum Schreiben

Im Bereich des Schreibens hat man sich von den alten „Aufsatzformen“, denen Sie in Ihrer Schulzeit noch begegnet sind, gelöst. Die „Erörterung“ oder „Charakterisierung“ waren typische Schulschreibformen, die von den Kindern auch als entsprechend „künstlich“ erkannt und wegen ihres fehlenden Lebensweltbezuges oft abgelehnt wurden. Der neue Lehrplan sieht Schreiben als eine Handlung zum Lösen von Aufgaben und Anforderungen vor, wie sie den Schreibenden auch nach Ende ihrer Schulzeit bzw. auch außerhalb der Schule ständig begegnen können. Demzufolge beinhalten Schreibaufträge nun auch verschiedene Schreibformen: Die Erschließung eines poetischen Textes greift häufig zugleich die Charakterisierung von literarischen Figuren auf und kann auch mit einem Beurteilungsauftrag verknüpft werden. Daher muss ein Grundinventar verschiedener Schreibformen bei den Schülern angelegt und immer wieder in Schreibsituationen erprobt werden. Häufige knappe Schreibaufträge erhalten den Vorzug vor seltenen langen. Außerdem begegnen den Schülern zunehmend ungewohnte, aber durchaus motivierende Schreibarrangements. So können bereits Kinder in der 7. Klasse aus einem Interview eine Sachtextzusammenfassung erstellen oder Schüler in der Mittelstufe aus einem Angebot verschiedener Texte zu einem Thema (auch: Bilder, Grafiken, Statistiken) einen eigenen Text bilden, der all diese Informationen berücksichtigt, miteinander verknüpft und kritisch würdigt („Kommentar“). Schließlich rückt der Schreibvorgang selber in den Mittelpunkt des Interesses: Die Schreibvorbereitungen (Recherche, Schreibplan, Gliederung etc.), besonders aber die Überarbeitung des Geschriebenen (z.B. über Beurteilungskataloge oder im Rahmen von Schreibkonferenzen, in denen Schüler gegenseitig ihre Texte lesen und beurteilen) bekommen mehr Gewicht. Wenn Sie sich Ihr „alltägliches“ Schreiben vor Augen führen, werden Sie feststellen, dass gerade diese beiden Bereiche von großer Bedeutung bei der Abfassung eines Schriftstückes sind.

b) Einige Hinweise zum Lesen

Lesekompetenz ist nicht die Fähigkeit, einen Text (laut) vorlesen zu können, sondern sie gibt Auskunft über das Textverständnis, d.h. inwieweit ein Schüler in der Lage ist, geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potenzial weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Der Jahrgangsstufentest in den Klassen 6 und 8 versucht über bestimmte Frage- und Auswahlverfahren festzustellen, ob ein vorgelegter (Sach-) Text in einer bestimmten Zeit von Schülern verstanden worden ist. Der kompetenzorientierte Deutschunterricht versucht einerseits Lesen zu fördern (Lesegeläufigkeit, Motivation, Lesegenuss), andererseits aber auch Lesestrategien und Interpretationstechniken einzuüben. Beide Bereiche können durchaus in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Lesekompetenzen lassen sich auf verschiedenen Leseniveaus überprüfen: Kann Ihr Kind dem Text einzelne Informationen entnehmen (= Ebene 1)? Kann es auch Informationslücken oder –sprünge im Text sinnvoll füllen (d. h. Informationen erschließen, die nicht ausgeschrieben im Text stehen = Ebene 2)? Kann es Informationen innerhalb des Textes bzw. Textinformationen und Vorwissen oder sonstiges textexternes Wissen miteinander verknüpfen (= Ebene 3)? Und schließlich: Kann Ihr Kind im Anschluss an den Text über die Thematik diskutieren und die neu gewonnenen Informationen sinnvoll vernetzen (= Ebene 4)? Kompetenzorientierter Deutschunterricht will und muss auf allen vier Ebenen die Lesefähigkeiten der Schüler fördern. Auch deshalb werden Sachtexte und literarische Texte, kontinuierliche (= geschriebene) Texte und diskontinuierliche (Grafiken, Bilder etc.) Texte, Texte aus dem Fach Deutsch und fachwissenschaftliche Texte anderer Fächer immer stärker miteinander in Bezug gesetzt. Informationsrecherche und –präsentation nehmen dabei einen größeren Stellenwert ein als bisher. Entsprechend versucht die Schule auch über die konkrete Unterrichtssituation hinaus Leseanlässe zu schaffen wie z. B. die Lesestunden in den Klassen 5 und 6, den Vorlesewettbewerb der 6. Klasse, Angebote wie den „Poetry Slam“ oder den „Kleinen literarischen Salon“, aber auch die Beschäftigung mit Texten im Rahmen von Projekten oder Schülerwettbewerben.

Fazit

Die „Kompetentorientierung“ führt nicht zu einem völlig neuen Unterricht oder zu neuen Unterrichtsinhalten. Allerdings konnte letztere im Zuge kompetenzorientierter Wissensvermittlung sogar komprimiert werden, da auf der Basis verfügbarer Grundkenntnisse und methodischer Grundfertigkeiten so mancher Inhalt auch eigenständig bzw. exemplarisch erschlossen werden kann. Vielmehr fokussiert die „Kompetenzorientierung“ die Blickrichtung von Lernenden und Lehrenden wieder stärker auf die zu erreichenden Fähigkeiten. Zwar stehen immer noch einzelne Zieldefinitionen im Mittelpunkt der Einzelstunde, doch weitet sich der Blick – und zwar schon zum Zeitpunkt der Planung (der Lehrenden) bzw. der thematischen Erst-begegnung (bei den Lernenden) – auf die sukzessive Wissensvernetzung der Jugendlichen während einer Sequenz, eines Schuljahres bzw. der gesamten Schulkarriere. Zunehmende Eigentätigkeit oder die Verlagerung von „deklarativem Wissen“ (z. B. „Tafelbild-Auswendiglernen“) hin zum Problemlösen innerhalb unbekannter Problem-situationen mag manchem Jugendlichen immer noch neu und etwas unheimlich erscheinen. Zugleich aber sind dies die unverzichtbaren Voraussetzungen, um die komplexen Anforderungen in Studium und Beruf erfolgreich bewältigen zu können.

(J.-P. Kurzella)



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