Biologische Verhaltensforschung Grenze und Grenzüberschreitungen

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Grenze und Grenzüberschreitungen aus dem Blickwinkel der biologischen Verhaltensforschung

Studientag der 11. Klassen am 30. 01. und 31. 01. 2002 auf Burg Feuerstein

Sicherheit und Risiko - ein Überblick

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Wir streben nach Sicherheit einerseits und nach Grenzüberschreitungen andererseits

Es ist merkwürdig:

Der Mensch strebt nach Sicherheit und Geborgenheit, er strebt aber auch nach Abenteuer und Risiko, nach Grenzüberschreitungen. Eigentlich, so meint man, würde es doch genügen, sich mit einem guten Glas Wein vor den Fernseher zu setzen oder in einen geruhsamen Ferienort zu fahren. Warum aber legen wir es darauf an, unter Schmerzen und Qualen auf einem windgepeitschten Gipfel an einer Embolie zu Grunde zu gehen oder zu erfrieren? Warum gibt es immer mehr Menschen, die in Extremsituationen den Adrenalin peitschenden Nervenkitzel und den ultimativen Kick suchen wie Extremsportler, die in Grenzbereichen Momente des Hochgefühls erleben?

Was treibt uns in Grenzregionen menschlicher Belastbarkeit?

Gehen wir etwas zurück in unsere Vergangenheit.

Wenn Marco Polo Europa und Asien durchwanderte oder Vasco da Gama und Kolumbus sich mit ihren Mannschaften auf den grenzenlosen Ozean hinauswagten, so war das in Ordnung, denn sie verfolgten ein vernünftiges Ziel, Handel treiben und Reichtümer anhäufen. Dagegen galt es als abwegig, auf Berge zu steigen, nur um zu erleben, wie sich Körper und menschliche Willenskraft mit der Unermesslichkeit der Natur auseinandersetzen würden. Das Leben war anstrengend genug, und gerade deshalb schien es vollkommen sinnlos, ohne triftigen Grund zusätzliche körperliche Strapazen auf sich zu nehmen.

Es scheint also so zu sein, dass Extremsportarten deswegen in neuerer Zeit immer mehr Zulauf haben, weil sich die Lebensverhältnisse geändert haben. Der Mensch ist aber das Ergebnis eines evolutionären Prozesses und wir unterscheiden uns auch im 21. Jahrhundert nicht allzu sehr von unseren Höhlen bewohnenden Vorfahren. Da gibt es in uns zum Beispiel ein Programm, das uns wünschen lässt, mit anderen Menschen an einem sicheren Ort zusammen zu sein, oder es gibt ein Programm, das uns wünschen lässt, allein und ungebunden zu sein. Oder : Es gibt ein Programm, das uns danach streben lässt, Kräfte einzusparen, zu entspannen, ein bequemes Leben zu haben und andererseits ein Programm, das in uns den Wunsch weckt, die Welt zu erkunden, Abenteuer zu erleben, Risiken in Kauf zu nehmen. Und beide Programme sind für das Überleben unserer Art notwendig: ohne das Erste würden wir unserer Kräfte ruinieren, ohne das Zweite würden wir stagnieren, würden aufzuhören, uns fortzuentwickeln.

Bei verschiedenen Menschen sind die verschiedenen genetischen Anweisungen unterschiedlich stark ausgeprägt. So liegt die Toleranzschwelle gegenüber der Langeweile bei manchen Menschen sehr niedrig. Sie suchen die Sensation und neigen zu riskanten Abenteuern und erscheinen vielen von uns als völlig verrückt oder durchgeknallt, wenn sie gegen die Regeln des Alltagsverstandes verstoßen und Grenzüberschreitungen begehen. Was sagt die Verhaltensbiologie dazu?

Zwischen Sicherheit und Grenzüberschreitung: die Verhaltensbiologie löst den Widerspruch

Die Evolution hat in unserem Nervensystem zwei unterschiedliche Motivationen angelegt: Die Lust, das Wohlgefühl, das wir empfinden, wenn wir essen, wenn wir uns ausruhen oder mit einem anderen Menschen Kontakt haben, andererseits aber auch eine Freude oder ein beflügelndes Gefühl, das uns befällt, wenn es uns gelingt, über die bloßen Erfordernisse des Überlebens hinauszukommen.

Diese beiden Motivationen scheinen im Widerspruch zu stehen, die Verhaltensbiologie zeigt aber, dass der Mensch nur dann Grenzen überschreitet, nur dann die Unsicherheit aufsucht, wenn er sich sicher fühlt. Es klingt paradox, aber bei näherer Betrachtung ist es ganz klar: Der Mensch sucht das Risiko auf, um Sicherheit zu gewinnen. Wir machen aus Unbekanntem Bekanntes, aus Unsicherheit Sicherheit.

Also: Das Neue ist nur der Reiz der Neugier- der Sinn der Neugier ist Sicherheit. Der Sinn besteht darin, das Neue bekannt zu machen und damit die Sicherheit zu erhöhen. Dabei ist es nicht nur sinnvoll, das Neue zu erforschen, das in unserer Lebenswelt auftaucht. Noch wirkungsvoller ist es, das Neue aufzusuchen, die Grenzen des Reviers zu überschreiten, neue Probleme zu suchen. Gewiss, das Neue, das Unbekannte ist mit Risiko behaftet, mit Unsicherheit. Aber der Einsatz lohnt sich: Je größer die erforschte Umgebung ist, je mehr Probleme gelöst sind, je mehr Wissen man hat, je mehr Neues zu Bekanntem geworden ist, desto größer ist die erreichte Sicherheit.

Jetzt stehen wir vor der Lösung unseres Problems. Neugier ist ein Trieb! Der auslösende Reiz ist das Neue, das Unbekannte, Unsichere. Ist der Reiz nicht vorhanden, suchen wir ihn auf. Haben wir das Neue gefunden, machen wir es uns bekannt, es wird unserem Sicherheitssystem einverleibt, wir verwandeln Unsicherheit in Sicherheit. Für die Anstrengung , die mit dem Aufsuchen und mit der Verwandlung von Unsicherheit in Sicherheit verbunden ist, werden wir mit Lust belohnt. Jeder kennt die Lust, die mit der Lösung eines Problems verbunden ist. Sie reicht vom Aha-Erlebnis bis zum Freudentanz.

Sicherheit durch Neugier und Risiko

Die Evolution der Sicherheit

Um zu verstehen, dass das Aufsuchen eines Risikos unter bestimmten Bedingungen einen Zuwachs an Sicherheit bedeutet, muss man das evolutionäre Prinzip Sicherheit genauer untersuchen. Es hat sich in vier Stufen entwickelt. Ich beginne mit der instinktiven Sicherheit.

- Instinktive Sicherheit

In der Umgangssprache benutzen wir das Wort Instinkt im Sinne einer gefühlsmäßigen Sicherheit. Zahlreiche Tierarten beziehen ihre Sicherheit aus dem instinktiven Verhalten. Dies gilt beispielsweise für den Fluchtinstinkt, wobei viele Tiere ein angeborenes Feindschema haben. Dabei funktioniert der Instinkt nicht nur beim Aufsuchen von Deckung, bei der Flucht oder beim Totstellen, er funktioniert ebenso sicher beim Erwerb von Nahrung oder beim Aufsuchen von Sexualpartnern. Unter den zahlreichen Verhaltensweisen wurden diejenigen ausgelesen, die die größtmögliche Sicherheit zur Folge hatten. So erfolgreich instinktives Verhalten auch war und ist, hat es einen entscheidenden Nachteil: Es ist starr. Verändert sich nämlich die Umwelt, dann führt es nicht mehr zum Ziel.

- Sicherheit durch Lernen

Den evolutionären Sinn von Lernen begreift man nur, wenn man es als Abbau der uns umgebenden Information betrachtet. Wenn ich eine Erfahrung mache, zum Beispiel mit einem Wettersturz im Hochgebirge, dann wundere ich mich ein zweites Mal nicht mehr darüber, ich rechne vielmehr damit. Wenn ich Auto fahren lerne, stehe ich zunächst vor einem Berg von Information; habe ich es gelernt, ist nicht nur der Berg verschwunden, ich kann mich sogar mit meinem Beifahrer unterhalten oder Musik hören. Worin besteht nun der evolutionäre Sinn von Lernen? Dadurch, dass ein Lernender die Information seiner Außenwelt abbaut, gewinnt er an Sicherheit. Je weniger Information die Außenwelt enthält, je bekannter sie also ist, desto sicherer kann man sich in ihr bewegen. Lernen hat gegenüber dem Instinkt den Vorteil, dass man sich wechselnden Umwelten anpassen kann, es ist flexibler. Lernfähigkeit erweist sich also als Selektionsvorteil.

- Sicherheit durch Denken

Probleme sind charakteristisch für denkende Wesen. Und schon der Urmensch hatte seine Probleme mit der Nahrungsbeschaffung, Waffenherstellung usw. Ein Problem ist durch Unsicherheit gekennzeichnet. Man stellt Versuche an, konkret oder im Geiste, man spielt sie durch, scheidet die untauglichen aus und hat plötzlich einen Einfall, der zur richtigen Lösung führt. Der Prozess des Problemlösens besteht in der Verwandlung von Unsicherheit in Sicherheit. Allerdings können falsche Erkenntnisse bedrohlichere Folgen haben als instinktives Verhalten. Aber wir haben keine andere Möglichkeit: Die relative Sicherheit durch Erkenntnis ist die einzige, auf die wir uns stützen können.

- Sicherheit durch Neugier und Risiko

Wenn irgendwo Menschen zusammenlaufen, Aufregung herrscht, etwas passiert ist, dann zieht es uns dorthin (auch wenn wir der Neugier nicht nachgeben): Wir wollen das Neue in Erfahrung bringen, das Unbekannte bekannt machen. Damit ist klar: Der Sinn der Neugier ist Sicherheit. Deutlich wird das in vielen Bereichen. Beim Kennenlernen neuer Menschen wollen wir wissen, mit wem wir es zu tun haben, was wir zu erwarten haben. Besonders wichtig ist der Gewinn an Sicherheit beim Kennenlernen eines Partners. Moderne Heiratsvermittler versuchen daher, mit Hilfe des Computers die Unsicherheit schon im Vorfeld zu reduzieren.

Tatsächlich war der Mensch schon immer neugierig. So schreibt der Geologe Pascal, der sich auf Raumflüge zum roten Planeten vorbereitet: "Es ist reine Leidenschaft. Die Menschen brauchen Herausforderungen und haben das Bedürfnis, der Enge zu entfliehen. Die Urmenschen verließen Afrika, die Pilgrimfathers das alte England und wir - wir werden uns zu einer weltraumfahrenden Spezies entwickeln. Wir müssen es angehen."

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Der Sicherheitstrieb

- Der evolutionäre Sinn von Trieben

Um zeigen zu können, dass es sich bei der Neugier um einen Trieb handelt, und zwar einen Trieb zur Sicherheit, soll zunächst dargelegt werden, was überhaupt ein Trieb ist und welchen Selektionsvorteil er mit sich bringt.

Als Beispiel des Nahrungstriebs und des Sexualtriebs soll dies betrachtet werden. Das Gemeinsame des Triebgeschehens lässt sich in fünf Schritten beschreiben.

1. Innere Reizquellen, ein leerer Magen oder ein steigender Testosteronspiegel, führen zu mit Unlust verbundenen Gefühlen des Unbefriedigtseins, die zu wachsender Handlungsbereitschaft führen.

2. Für jeden Trieb gibt es spezielle auslösende Reize.

3. Stößt die Handlungsbereitschaft auf keinen auslösenden Reiz, kommt es zum Appetenzverhalten: Tier und Mensch suchen den Reiz mit einer immer größer werdenden Anstrengung auf, die Triebstärke steigt an.

4. Die Triebhandlung wird also aus zwei Quellen gespeist: dem äußeren Reiz (Nahrungsreiz oder sexueller Reiz) und der inneren Triebstärke. Das Zusammenspiel der beiden Faktoren erfolgt nach dem Prinzip der doppelten Quantifizierung: Wenn die Triebstärke hoch ist, muss der Reiz nur klein sein, ist sie niedrig, dann wird die Triebhandlung nur bei starkem Reiz ausgelöst.

5. Die Endhandlung- Nahrungsaufnahme, Orgasmus- bewirkt eine Reduktion der Triebstärke; die aufgelöste Triebspannung ist mit einem intensivem Lusterlebnis verbunden. Und worin liegt der Selektionsvorteil? Mit Trieben ausgestattete Lebewesen finden sich nicht mit einer vorliegenden Mangelsituation ab, sie suchen vielmehr aktiv nach Nahrung oder einem Sexualpartner. Der Trieb ist dann so stark, dass fast jede Anstrengung und fast jedes Risiko in Kauf genommen wird.

Beim Menschen besteht der Unterschied zum Triebleben der Tiere darin, dass der Mensch in das Geschehen eingreifen kann: Er kann sich beherrschen, er kann sich aber auch der Lust wegen immer höhere Reize beschaffen.

- Der Neugiertrieb als Sicherheitstrieb

Handelt es sich nun bei der Neugier überhaupt um einen Trieb? Wenn ja, dann wäre auch klar, warum der Mensch unermüdlich Neues sucht, Neues schafft und immer neue Risiken aufsucht. Gehen wir die Kriterien durch:

1. Wachsende Handlungsbereitschaft zeigt sich darin, dass die Gier nach Neuem spontan auftritt- und zwar umso stärker, je länger wir Neues entbehrt haben. Experimente mit lange dauernder Isolation zeigen, dass das Bedürfnis nach Information rasch anwächst.

2. Welche auslösenden Reize gibt es im Falle der Neugier? Ein Neugierreiz besteht in der Abweichung vom Gewohnten, sei es, dass etwas Ungewohntes in unseren Gesichtskreis tritt, sei es, dass wir ein Ereignis oder einen Gegenstand noch nie zur Kenntnis genommen haben. Neuigkeitswert hat das Unwahrscheinliche, das Seltene, das Überraschende; er ist umso größer, je größer die Abweichung vom Gewohnten ausfällt.

3. Wird nicht immer etwas Neues geboten, dann suchen wir das Neue aktiv auf. Man gibt sich mit einer reizlosen Umwelt nicht zufrieden, sondern sucht die Reize aktiv auf: von der Abenteuerreise über das Schachspielen bis zum Risikosport.

4. Die Triebhandlung besteht darin, das Neue zum Gewohnten zu machen, das Unbekannte zum Bekannten, die Unsicherheit zur Sicherheit. Wir lernen Land und Leute kennen, wir lösen ein Problem, wir überwinden eine Gefahr.

5. Die Endhandlung der Neugier besteht in der Auflösung der durch Unsicherheit erzeugten Spannung, also durch Erreichen von Sicherheit. Die Spannungsauflösung wird lustvoll erlebt. In der Psychologie wird das "Aha-Erlebnis" (Karl Bühler) schon lange beschrieben, Csikszentmihalyi nennt es "Flow". Zusammenfassend kann man also sagen, dass die Neugier einen Trieb darstellt, den man, bezieht man den Sinn mit ein, als "Sicherheitstrieb" bezeichnen kann. Gelegentlich wird von einem "Erkenntnistrieb" gesprochen, wenn man nur den Erkenntnisgewinn betrachtet. Eines wird dabei auch noch deutlich: Der Sicherheitstrieb kann wie jeder Trieb nie dauerhaft befriedigt werden. Daraus lässt sich auch das Risikoverhalten, die Grenzüberschreitung beim Menschen erklären.

Den Zusammenhang zwischen Sicherheitsstreben und Grenzüberschreitung kann man mit dem sog. Sicherheits-Risiko-Gesetz beschreiben.

- Das Sicherheits-Risiko-Gesetz

Der Mensch sucht also, wenn er sich in Sicherheit befindet, Unsicherheit auf. Diese kann in einem Problem bestehen oder in einer riskanten Situation. Es wird jedoch nur so viel Unsicherheit eingegangen, wie - aller Wahrscheinlichkeit nach- abgebaut werden kann. Aber: Die Unsicherheit ist eine subjektive Größe und beruht auf Gefühlen, die durch Gottvertrauen oder durch Selbstüberschätzung verursacht sein können. Je sicherer man sich fühlt, desto weiter muss man gehen, um auf den Reiz der Unsicherheit zu stoßen. Und je länger die Sicherheit währt, desto intensiver wird die Suche nach Unsicherheit. Dies ist das Sicherheits-Risiko-Gesetz. Worin besteht nun die Lust beim Sicherheitstrieb?

Flow- die Lust des Sicherheitstriebes

- Das Flow-Erlebnis bei Csikszentmihalyi

Csikszentmihalyi hat leidenschaftliche Bergsteiger befragt: "Eines der schönsten Erlebnisse beim Klettern besteht darin, die Möglichkeit jeder einzelnen Position herauszufinden. Jede weist unendlich viele Gleichgewichtsvariationen auf, und aus diesen nun die beste herauszutüfteln, sowohl im Bezug auf die jetzige wie auf die nächste Position, das ist wirklich toll!. Man probiert und probiert, bis eine Lösung gefunden ist." C. bezeichnet den "besonderen dynamischen Zustand", das holistische Gefühl bei völligem Aufgehen in einer Tätigkeit, als Flow.

Dieses Flow-Erlebnis tritt aber nur dann auf, wenn die Aktionen im Bereich der Leistungsfähigkeit des Ausführenden liegen, dort allerdings bis an die Grenze gehen. Während Csikszentmihayi das Flow-Erlebnis sehr genau beschreibt, kann er doch keine Erklärung dafür geben. Legt man die Erkenntnisse der Verhaltensbiologie zugrunde, so liegt eine Erklärung geradezu auf der Hand.

- Das Flow-Erlebnis als Triebbefriedigung

Wenn wir uns erinnern: der Neugiertrieb ist in Wirklichkeit ein Sicherheitstrieb. Wir sind gierig auf das Neue. Die Triebhandlung besteht im Bekanntmachen des Unbekannten, im Lösen von Problemen, in der Exploration, in der Überschreitung von Grenzen, in der Verwandlung von Unsicherheit in Sicherheit. Dieser Gewinn an Sicherheit wird mit Lust erlebt und dieses Gefühl ist ein Selektionsvorteil, denn es führt zu weiterer Exploration, zu immer größerer Sicherheit. Eine Möglichkeit, dauerhaften Flow zu erreichen, liegt im Aufsuchen des sogenannten "Experten-Flows". Darunter versteht man den Flow, der durch überdurchschnittliches Können erreicht wird, durch hohe Leistung. Ein Musterbeispiel ist der Bergsteiger Reinhold Messner. Er stieg erst dann aus seinem Metier aus, als alle interessanten Berge erklommen waren. Wann werden nun Grenzüberschreitungen gefährlich? Ein echtes Risiko entsteht, wenn wir eine Unsicherheit zu bewältigen versuchen, der wir nicht gewachsen sind, also eine solche, die wir falsch einschätzen. Welche Faktoren sind es nun, die uns in gefährlicher Weise Grenzen überschreiten lassen und die uns dann in bedrohliche Risikosituationen bringen?

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Die fünf Risikofaktoren

- Angstvermeidung

Angst entsteht durch Unsicherheit, die man nicht abbauen kann. Die Tatsache, dass man bei Gefahr Angst verspürt, ist lebenserhaltend. Angst führt zu überlebenswichtigen Reaktionen: zu Flucht oder Überwindung. Eine natürliche Angst hilft uns, nur so weit unsere Grenzen zu überschreiten, wie wir Unsicherheit in Sicherheit verwandeln können. Wie bringt es der Mensch nun fertig, berechtigte Angst zu vermeiden? Viele haben dafür ganz einfache Rezepte ersonnen. Sie glauben an den Schutzengel oder andere höhere Mächte. So stellte sich bei einer Befragung von Motorradfahrern heraus, dass ein erheblicher Teil an einem Schutzengel glaubt. Das ist gar nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, wie viele Menschen einen Talisman im Auto haben oder ein Amulett tragen.

- Überheblichkeit

Das Sicherheits-Risiko-Gesetz - je größer die Sicherheit, desto größer das Risiko- bezieht sich leider auf die subjektive Sicherheit, also auf das Sicherheitsgefühl. Selbstüberschätzung, also Überheblichkeit, bedeutet ein unangemessenes Sicherheitsgefühl und das führt zu einem objektiv höheren Risiko. Wer sich für einen hervorragenden Motorradfahrer hält, fährt objektiv riskanter, wer sich für besonders fit hält, riskiert einen Marathonlauf, wer sich für unwiderstehlich hält, riskiert jeden Flirt. Auch der Einstieg in die Drogenszene geschieht oftmals aus Überheblichkeit. Man hält sich selbst für stark genug, mit der Droge jederzeit wieder aufhören zu können. Die extremste Form der Überheblichkeit ist jedoch die Einbildung, man sei die Krone der Schöpfung oder ein ganz besonderer Teil des göttlichen Universums. Eine solche Überschätzung steigert das Sicherheitsgefühl ins Grenzenlose.

- Ignoranz

Wenn man subjektiv kein Risiko erkennt, ist das Sicherheitsgefühl uneingeschränkt, Grenzen werden leichtsinnig überschritten. Ignoranz tritt in mehreren Formen auf: Sie kann einmal auf leichtfertiger Unkenntnis beruhen. Dazu gehört der lange Zeit sorglose Umgang mit der Umwelt. Man kannte die Zusammenhänge ganz einfach nicht. Unkenntnis kann aber auch auf der Schwierigkeit eines Erkenntnisvorganges beruhen. So können sich viele Menschen den Verlauf der Wachstumsfunktionen nicht vorstellen. Auch dadurch werden Gefahren der Umweltzerstörung nicht erkannt.

Eine weitere Form der Ignoranz ist die Unterschätzung von Gefahren und Schwierigkeiten. Man unterschätzt den Bremsweg, die Folgen eines Wettersturzes oder auch einen Gegner. Ignoranz kann aber auch als Vogel-Strauß-Politik auftreten: Man will Probleme und Schwierigkeiten gar nicht sehen. Ganz besonders gefährlich ist Ignoranz dann, wenn sie auf Dummheit beruht. Was lässt sich dagegen sagen, wenn jemand das globale und totale Risiko der Atomtechnik damit abtut, dass keine Technik ohne Risiko zu haben sei?

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- Langeweile

Langeweile ist der dauerhafte Zustand von Sicherheit und damit erhöht Langeweile die Risikobereitschaft. Zwar sind nicht alle Neugierreize mit Risiko behaftet: Rätsellösen, Basteln, auch Computerspiele sind risikofrei. Dagegen kann das Aufsuchen von Spielhöllen sehr rasch zur Sucht führen, weil Flow-Erlebnisse leicht und ohne Anstrengung zu haben sind. Ein weiterer äußerst riskanter Reiz, zu dem die Langeweile führen kann, ist die Droge. Wenn die Langeweile über einen sehr langen Zeitraum andauert, wird der Gelangweilte zusätzlich noch frustriert und aggressiv bis hin zu zielloser Gewalt.

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- Lust

Es gibt auch eine Lust am Risiko, und zwar besonders dann, wenn die Angst ausgeschaltet wird. So findet man unter Extremsportlern oder den Motorradfahrern auch solche, die aus einem erhöhten Risiko eine erhöhte Lust beziehen. Wie Menschen das Risiko geradezu suchen, zeigt sich beim Autofahren. In den achtziger Jahren wurden die Auswirkungen des ABS, des Anti-Blockiersystems untersucht. Das Ergebnis ist ernüchternd. Die Fahrer mit elektronischer Bremshilfe produzierten genauso viele Unfälle wie die Fahrer ohne ABS. Psychologen sprechen hier von Risikokompensation und auch sie stellen fest, dass Maßnahmen, die die Sicherheit vergrößern oft das Gegenteil zur Folge haben.

Die Lust, die durch höhere Reize erlebt werden kann, bezieht sich auf alle Triebe. Im Bereich der Sexualität werden Krankheiten, oft sogar der Tod in Kauf genommen. Viele Menschen wollen die sexuelle Lust mit vollem Risiko erleben, sie verzichten auf Kondome oder andere Schutzmaßnahmen.

Zwischen Angst und Langeweile- Grenzüberschreitung und Flow

Ich möchte zwei Bereiche herausgreifen: die Freizeit und die sexuelle Partnerschaft.

Freizeit

Früher, als der Mensch noch zu Fuß gehen musste, bedeutete Reisen Vergrößerung des Lebensraumes und damit Gewinn von Sicherheit. Heute ist durch die Entdeckung der Welt und deren Entzauberung durch den Massentourismus dem Reisen das Risiko genommen worden. Der Durchschnittstourist kann ohne Anstrengung das Neue sehen, alles Unsichere wird ihm durch das Reisebüro abgenommen. Vor Unvorhersehbarem wie das Wetter kann man sich versichern lassen. So führt die allseitige Sicherheit zwangsläufig zur Langeweile. Daher wagen nicht wenige Reisende oft mit einer gehörigen Selbstüberschätzung eine Grenzüberschreitung, indem sie auf abenteuerliche Weise Wüsten durchqueren oder Urwälder durchstreifen und sich so in Gefahr bringen.

Besonders risikoreich kann das Verhalten im Sport sein.

Ruft der Fitnesssport die evolutionär programmierten Bewegungspotenziale ab und geht es beim Kampfsport im weitesten Sinne um Befriedigung des Aggressionstriebes, so dient der Risikosport der Befriedigung des Sicherheitstriebes. Es soll etwas passieren, was zwischen Büroalltag, Verkehrsstau und Dreizimmerwohnung nicht mehr zu haben ist. Die Sehnsucht nach dem erregenden Gefühl einmaliger Naturerlebnisse ist dabei meist vorgeschoben, eher geht es um das erregende Gefühl, im Moment des Risikos den eigenen Körper zu spüren, sich psychisch und physisch zu schinden bis an die Grenze zum Masochismus, auszubrechen aus dem Alltag, auf Berge hinauf, durch Wüsten, über Meere. Genetiker verweisen auf eine spezielle Form eines Gens, die dem Menschen die Anlage zum Abenteurer geradezu in den Körper lege. Soziologen verweisen auf das Streben des bürgerlichen Menschen nach Individualität und Abgrenzung von der Masse. Und die Psychologen vertreten eine ähnliche Theorie wie die Verhaltensbiologen: Sie nennen die Grenzüberschreitung einen Archetypus, der von Kindheit an, wenn die unmittelbare Umgebung erforscht und die eigenen beschränkten Möglichkeiten erprobt werden, ein Leben lang weiter wirke und dafür sorge, dass der Mensch nie zur Ruhe komme. Sie heben dabei den Mangel an Gelegenheiten hervor, sich in einer scheinbar gefahrlosen Welt noch zu bestätigen. Extremerfahrung bezeichnen sie als Flucht vor dem Versicherungsvertreter. Gefährliche Situationen haben eine erhebende Wirkung. Wer sie überstanden hat, gewinnt an Selbstsicherheit, Mut und Durchhaltevermögen. Das Abenteuer gibt die Bestätigung, etwas erreicht , zu Ende gebracht zu haben. So paradox es auch klingt: Es vermittelt Geborgenheit. Deshalb werden Abenteuer heute hunderttausendfach gebucht.

Risikosportler zapfen gelegentlich noch eine zweite Lustquelle an: den Sieg durch Anerkennung. Wenn Zuschauer da sind, surfen oder springen sie noch waghalsiger. Das Staunen der Zuschauer bedeutet für sie Anerkennung und Sieg. Lust durch Anerkennung erstreben auch Leistungssportler, die bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gehen. Die Rekordflut im Leistungssport der achtziger Jahre basierte auf Betrug durch Doping, dies gilt vor allem für den Frauensport. Hormondoping erzeugt im weiblichen Organismus einen stärkeren Effekt als im männlichen. So haben bis heute in der Frauenleichtathletik sechs Weltrekorde Bestand, die zwischen 1985 und 1989 aufgestellt wurden- in der Blütezeit der Anabolika. Die absurdeste Bestmarke dieser Epoche sind die 10,49 Sekunden, die die mittlerweile an Herzversagen verstorbene US-Amerikanerin Griffith Joyner vor 13 Jahren über 100 Meter rannte.

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Partnerschaft

"Man siehts mir nicht an, aber ich bin ein ziemlich schwieriger Typ" sagt der attraktive Blondschopf an der Bar. Die Frau gegenüber läuft zartrosa an, ihre Augen beginnen zu funkeln. Komplizierte Männer erscheinen vielen Frauen auf den ersten Blick besonders begehrenswert. Dabei reicht die Palette vom charmanten Typ, der mit einem Lächeln alle Missetaten wieder wettmacht bis zum Grantler, der regelmäßig ausrastet. Was aber reizt so an einem komplizierten Partner? Er verspricht Spannung und Aufregung in den Alltag zu bringen, Diese Männer bedeuten eine Herausforderung, so meinen die Psychologen, nach dem Motto "Ich werde ihn knacken, das erreichen, was noch keine Frau vor mir geschafft hat". Und die Männer scheinen genauso irrational zu handeln. Sie verlieben sich in eine Frau, weil sie frech und unabhängig ist, und dann verbringen sie die nächsten zehn Jahre damit, ihr diese Eigenschaften auszutreiben. Und wenn sie das geschafft haben, sind sie gelangweilt und trennen sich von ihr.

Wendet man die Erkenntnisse über den Sicherheitstrieb und das Sicherheits-Risiko-Gesetz auf eine Partnerschaft an, so ergibt sich Folgendes: Die Zeit vor einer festen Partnerschaft, die Partnersuche, ist eine Zeit der Unsicherheit. Verhaltensbiologisch sind drei Triebe bedeutsam: Sexualität, Bindung, Sicherheit, vielleicht als Liebe zu beschreiben. Hat man einen Partner kennengelernt und sich für ihn entschieden, dann will man ihn auch behalten und nicht umsonst wird die Eheschließung durch zahlreiche Rituale gesichert. Bleibt allerdings die Unsicherheit trotz aller Maßnahmen bestehen oder kehrt nach einiger Zeit wieder, kommt es zur Angst, treu ist man nur dann noch aus Angst, den Partner zu verlieren. Erstreckt sich bei einem Partner allerdings die Sicherheit über längere Zeit, ist sie zudem noch verbrieft und versiegelt, so regt sich der Sicherheitstrieb in Form von Appetenz nach Neuem. Man sucht erneut die Unsicherheit, man ist bereit, Risiken einzugehen oder sogar aufzusuchen. Nicht umsonst spricht man in diesem Zusammenhang von Abenteuer. In der Situation gesättigter Sicherheit , also der Langeweile, gibt es zwei Möglichkeiten: Seitensprung oder Aggression.

Die Frauenzeitschrift "freundin" hat 1313 Männern und Frauen die folgende Frage gestellt:

Würde Sie ein Liebesabenteuer mit einem Unbekannten bzw. einer Unbekannten reizen?

50 % der Frauen und 70 % der Männer haben mit "Ja" geantwortet. Beginnen wir also mit dem Seitensprung. Das Aufsuchen neuer Unsicherheit, die Grenzüberschreitung wird dann umso eher angestrebt, je sicherer man sich in seiner Beziehung fühlt. Gelegentlich werden die Reize auch noch raffiniert erhöht. Nicht nur der neue Partner ist reizvoll, sondern auch die Umstände der Begegnung.

Die andere Konsequenz dauerhafter und totaler Sicherheit in einer festen Verbindung ist Aggression. Wenn der Mensch bei seiner Suche nach Neuem keine Reize findet oder keine Möglichkeit hat, die damit verknüpfte Triebaktivität zu verwirklichen, führt dies zur Frustration und zur Aggression, die sich in Krankheiten niederschlagen kann, aber meist auf den Partner richtet. Man macht den Partner dafür verantwortlich, dass man dauerhaft frustriert ist und lässt die Aggression an diesem Partner aus. Wie könnte nun eine ideale Partnerschaft aussehen?

Ich beschränke mich auf unsere gegenwärtige Partnerkultur und betrachte sie nur unter dem Aspekt des Sicherheitstriebes, Sexualität und Bindung gehören selbstverständlich dazu. Partnerschaft ist auf Sicherheit angelegt. Das Leben bringt so viele Unsicherheiten mit sich, dass eine ständige Unsicherheit die Handlungsfähigkeit in jeder Beziehung einschränken oder lahmlegen würde. Eine dauerhafte Unsicherheit hält niemand aus, ebensowenig aber eine dauerhafte Sicherheit. Eine mögliche Lösung besteht darin, auch in der Partnerschaft das Flow-Erlebnis zu suchen. Das könnte bedeuten, dass man sich stets um den Partner bemühen muss, seine Aufmerksam auf den Partner richten muss. Die ideale Partnerschaft liegt also zwischen Angst und Langeweile, sie ist gezeichnet durch das Flow-Erlebnis. Dieses ist weder durch totale Selbständigkeit noch durch totale Hingabe zu erreichen- Flow setzt die eigenständige Persönlichkeit voraus.

Wann kommt es nun zum totalen Risiko? Wann kommt es zu einer gefährlichen Grenzüberschreitung? Nach dem bisher Gesagten ist dies der Fall, wenn der Mensch sich total sicher fühlt.

Totale Sicherheit - totales Risiko

Der Mensch ist an sich ein unsicheres Wesen. Er fragt sich: Woher komme ich, wohin gehe ich, warum bin auf der Welt? Der Mensch kann mit seinem evolutionär gewordenen Denkapparat diese Fragen nicht beantworten. Er kommt in seinem begrenzten Lebensraum und seiner begrenzten Lebenszeit ganz gut zurecht, aber er ist nicht für die Unendlichkeit ausgerüstet. So gerät er in den Zustand totaler Unsicherheit. Dies macht Angst, schafft Beklemmung und es ist verständlich, dass er diesem Zustand zu entrinnen sucht.

Totales Risiko durch Glauben

Eine Möglichkeit, die totale Unsicherheit abzubauen, ist der Glaube an ein ewiges Leben, an einen Schöpfer, an einen Vater im Himmel. Durch den Glauben an ein ewiges Leben kann man die Frage nach dem Woher und Wohin beantworten. Und der Kern aller Religionen besteht in der Herstellung absoluter Sicherheit. Dadurch wird der Mensch aber steuerbar. Diejenigen, die ihm versprechen, Sicherheit zu gewähren, können alles von ihm haben: Gehorsam, Kampf, Unterwerfung. Aber je sicherer man sich fühlt, desto größere objektive Risiken geht man ein. Der sichere Glaube führt dazu, sich jeder Gefahr auszusetzen, in die Schlacht zu ziehen, der "heilige Krieg" garantiert ewiges Leben. Die absolute Sicherheit des Glaubens verringert die Chance für den Frieden. Der Nichtgläubige sieht die Situation anders: Auch er ist einerseits erfreut darüber, dass er die Lust am Leben bewusst erleben kann, aber er ist traurig darüber, dass dies nur von kurzer Dauer ist. Er ist unsicher, vorsichtig, ängstlich. Er weiß sich von der Natur abhängig, er will Sicherheit und Frieden, deswegen riskiert er nur das, was er bewältigen kann.

Totales Risiko durch Wissenschaftsgläubigkeit

Durch seine Erkenntnisfähigkeit gewinnt der Mensch Sicherheit. Unterliegen wissenschaftliche Aussagen auch einzig und allein den Kriterien der Logik und der Empirie, so kann sich dennoch auch ein Wissenschaftler irren; die Wissenschaft liefert uns nur eine relative Sicherheit. Leider aber verfällt der Mensch oft in den Fehler, durch die Wissenschaft eine absolute Sicherheit erreichen zu wollen. Er wird wissenschaftsgläubig. Aus Überheblichkeit spielt er die Gefahr herunter, die zum Beispiel von Kernreaktoren ausgeht, indem Unfälle wie im kommunistischen Tschernobyl bei uns in Deutschland nicht vorkommen können. Denn, so die Argumentation: Unsere Reaktoren sind sicher. Dieselbe Überheblichkeit findet sich bei einigen Gentechnologen, die jedes Risiko ausschließen.

Ebenso gefährlich ist die Wissenschaftsgläubigkeit aus Ignoranz. So hat der Mensch in die vernetzten Zusammenhänge der Natur eingegriffen und auch zunächst die gewünschten Zwecke erreicht, bis die Folgen verheerend wurden. Besonders bedrohlich wirkt sich die Ignoranz in der Sozialwissenschaft aus, wenn die Evolution des Menschen ignoriert wird, wenn man nicht sehen will, dass der Mensch auch mit Trieben und Instinkten ausgestattet ist. Dann glaubt man alles Mögliche aus ihm machen zu können.

Das Risiko der Geborgenen- die Risikogesellschaft oder Lust ohne Angst

Wie ist es nun zur Risikogesellschaft gekommen?

Die Ursachen liegen wohl darin, dass der Mensch in die Instinksteuerung eingreift und versucht, Lust zu steigern und Unlust zu vermeiden, Grenzüberschreitung ohne Gefahr. So führen die steigenden Ansprüche - immer exotischere Delikatessen, immer schnellere Autos, immer weitere Reisen, immer mehr Luxus - zwangsläufig zu einer immer größeren Belastung und letztlich zur Zerstörung der Umwelt. Sogenannte Zivilisationskrankheiten wie der Anstieg von Gewalt und der Drogenkonsum ist ebenso größtenteils eine Folge der Verwöhnung und Unterforderung. Um die Lust bei der Grenzüberschreitung zu steigern, zieht man alle Register der Angstvermeidung, so z.B. Angstvermeidung durch Glauben (der Herr wird uns schon nicht verkommen lassen) oder durch eine beschwichtigende Politik (die Kernkraftwerke sind sicher).

Wie könnte eine Lösung aussehen?

Verantwortbares Risiko- Versuch einer Lösung

Der Mensch soll das Gleichgewichtssystem des Sicherheits-Risiko-Gesetzes beachten. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen: das Recht auf Sicherheit und das Recht auf persönliches Risiko. Thesenartig möchte ich dies darstellen und gleichzeitig eine Zusammenfassung geben.

Das Recht auf Sicherheit

Der Mensch hat das Recht auf Leben, auf Unversehrtheit. Die Tatsache, dass wir nicht nur ein demokratischer, sondern auch ein sozialer Staat sind, stellt einen wichtigen Zuwachs an Sicherheit dar.

Das Recht auf Risiko

Aber der Mensch hat auch ein Recht auf Risiko, denn die Lust, die er daraus zieht, wirkt sich für ihn letztlich positiv aus. So wissen Psychologen: Wer immer mal wieder ein wenig seine Grenzen sprengt, sprich, über seine persönliche "rote Linie" tritt, zieht jede Menge daraus. Man sollte also jeden Tag ein bisschen was Verrücktes wagen! Es geht beim Recht auf Risiko darum, dies nicht zur eigenen oder zur Schädigung anderer zu tun. Es muss eine Kulturwelt geschaffen werden, in der der Mensch seine Triebe lustvoll, aber unschädlich befriedigen kann.

Dies lässt sich in drei Stufen erreichen:

1. Durch Allgemeinbildung erhält man ein hohes Maß an Überlebenswissen und damit ein gewisses Maß an Sicherheit in der Lebenswelt. Es geht in der Erziehung darum, die angeborene Neugierde systematisch zu fördern, damit auch der Erwachsene noch Abenteuer wagen kann.

2. Mit Qualifikation in einem bestimmten Bereich ist die kreative Komponente angesprochen. Qualifikation ist Voraussetzung für Leistung und sie befriedigt nicht nur den Sicherheitstrieb, sondern auch den Aggressionstrieb.

3. Bei der Reflexion geht es darum, in jeder Situation wahrzunehmen, welches Programm wir aktivieren sollten: Sicherheit oder Grenzüberschreitung, Einschränkung oder Schutz, Erweiterung oder Übertreibung.

Das Recht auf Risiko beinhaltet, dass wir auch als Erwachsene wie die Kinder immer bereit sein dürfen, Neues zu probieren, Grenzen zu überschreiten und dies zu unserem Vorteil zu nutzen. Das Geheimnis unserer enormen Motivation liegt darin, dass wir eigentlich noch Affen sind, die nie aufgehört haben zu spielen. Wenn wir nur einen einzigen Bereich für uns entdecken können, in dem wir ungebrochene Begeisterung fühlen, dann können wir diese Begeisterung intensivieren und ausdehnen.

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Wir müssen ja nicht alle gleich Freestyle- Fahrer werden (eine Fun- Sportart, die sich aus den Disziplinen Akrobatik, Sprung und Buckelpistenrennen zusammensetzt.) Auch müssen wir nicht wie Michael Jordan sein, der 38-jährige Weltklasse-Basketballspieler, der in einem Alter auf das Spielfeld zurückkehrt, wo er eigentlich gegen die Jungen nichts mehr ausrichten kann. Seine Begründung lautet: "Ich komme weder wegen des Geldes noch des Ruhmes wieder, sondern wegen der Herausforderung...und: Selbst wenn ich gegen die Jungen körperlich nicht mehr mithalten kann- dann muss ich einfach schlauer sein als sie."

Januar 2002 Dr. Angelika Weiß-Merklein


Literatur

  • Cziksentmihalyi, Mihaly: Grenzgänger; aus: future, Das Aventis-Magazin, 3/2001
  • von Cube, Felix: Gefährliche Sicherheit, Leipzig 1995
  • Desmond, Morris: Was uns antreibt; aus: future, Das Aventis-Magazin, 3/2001
  • Ernst, Heiko: Das Geheimnis der Könner; aus: Psychologie heute, Januar 2001
  • Ernst, Heiko: Das Gute an schlechten Zeiten; aus: Psychologie heute, Januar 2002
  • Meadows, Dennis: Die Grenzen des Wachstums, Stuttgart 1972
  • Experimentieren bis zum Kollaps; aus "Der Spiegel" vom 11. 9. 2000 mit dem Titel: Höher schneller weiter
  • Fotos aus: Gefühl und Schärfe, Berlin 1982
  • Zeitungsausschnitte aus "Fränkischer Tag" und "Frankfurter Allgemeine Zeitung"



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